Bewohnerinnen der WG Arm in Arm mit Pflegeleitung

Das Thema Demenz hat in unserer Gesellschaft zu wenig Präsenz. Darum nehmen wir die aktuelle „Weihnachtshasen“-Aktion von EDEKA zum Anlass, aus unserer Wohngemeinschaft und unseren Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Demenz zu berichten. Ina Brauns und Verena Schmid, Leitung unserer Wohngemeinschaft in Dietramszell, sind heute im Interview.

Liebe Ina, liebe Verena, worum geht es bei den EDEKA-Weihnachtshasen?

Ina Brauns: Mit der Weihnachtshasen-Aktion schafft EDEKA zu Ostern Aufmerksamkeit für Alzheimer und macht sich stark für die Aufklärung zum Thema Alzheimer. Anhand des Weihnachtshasens und dem dazugehörigen Werbefilm zeigen sie, wie der Alltag eines Menschen mit Alzheimer aussehen kann und dass Feste schon mal durcheinander geraten können. Mit jedem verkauften „Weihnachtshasen“ wird die Alzheimer Forschung Initiative e. V. unterstützt und 1 EURO gespendet. Wir von der Pflegezentrale finden das eine tolle Initiative und haben 100 Hasen gekauft. Immerhin erkranken jährlich 300.000 Menschen an Alzheimer.

as unterscheidet Demenz-Erkrankungen von anderen Krankheiten des Alters?

Ina Brauns: Demenz ist im Vergleich zu anderen Alterskrankheiten eine Herausforderung im täglichen Umgang und erfordert sehr viel Empathie und viel Geduld – von den Angehörigen und von unserem Personal. Nicht jede Pflegekraft kann von Anfang an gut mit dem Krankheitsbild umgehen. Es ist wichtig zu verstehen, dass man es nicht persönlich nehmen darf, wenn man von den Patienten beschimpft wird.

Verena Schmid: Wir erleben in unseren Gesprächen mit Angehörigen, dass es für sie eine große Herausforderung ist, die Eltern als Vorbildfunktion zu verlieren. Mit ihrem Geist, ihrem Verstand, ihrem Erwachsenensein. Dass man plötzlich für sie mitdenken und sich sogar manchmal für ihre Wort oder Taten schämen muss. Das ist der Unterschied zu anderen Alterskrankheiten. Es kommt zu kognitiven Defiziten, die dafür sorgen, dass Hemmungen und Filter verloren gehen.

Wie erlebt ihr Demenz-Erkrankungen in eurer täglichen Arbeit?

Verena Schmid: Unsere WG ist ein bunter Mix aus drei Herren und sechs Damen zwischen 65 und 89 Jahren mit ganz unterschiedlich stark ausgeprägten Symptomen. Einige sind geistig vollkommen klar und wissen, dass sie Alzheimer haben. Meist können sie sehr gut damit umgehen. Wichtig ist es, zu verstehen, dass jeder Bewohner und jede Bewohnerin einen individuellen Umgang braucht.

Ina Brauns: Das lässt sich ganz gut am Beispiel einer Bewohnerin mit sehr starker Demenz erklären. Hier muss unser WG-Personal umdenken lernen. Die Bewohnerin kann die Gesellschaft der anderen Bewohner nicht so gut verarbeiten und wird unruhig, wenn sie von anderen umgeben ist. Für sie ist es besser, allein auf ihrem Zimmer zu essen und sich öfter zurückzuziehen zu dürfen. Unsere Pflegekräfte mussten hier erst lernen, dass sie dadurch nicht vereinsamt, sondern sich in diesem Moment so wohler fühlt.

Wie sieht der Alltag der WG-Bewohner aus?

Verena Schmid: Der Alltag sollte im Idealfall eine Aneinanderreihung glücklicher und zufriedener Momente mit größtmöglicher Selbstbestimmung und so wenig Einschränkungen wie möglich sein. Wir sind eine offene WG. Jede*r Bewohner*in kann und darf sich frei bewegen, die WG verlassen für Spaziergänge, Einkäufe oder um einen Kaffee trinken zu gehen. Wir gestalten den Alltag lieber ruhig und versuchen, sie in viele Aufgaben des Alltags einzubinden wie Wäsche legen, kochen, einkaufen. Das gibt den Tagen eine gewisse Struktur und Rhythmus. Dazu gibt es lockere Angebote wie Gymnastik, Musik, Filmabende.

Rund um die Uhr sind zwei bis drei Pflegekräfte für die Bewohner*innen da.

Das WG-Pärchen beim SpaziergangWie ist die Interaktion der Bewohner untereinander?

Verena Schmid: Nach anfänglichen Bewohner-Wechseln durch Umzüge, aber auch Sterbefälle haben wir jetzt, ein Jahr nach Start unserer WG, ein sehr familiäres, gutes Klima innerhalb der WG, auch mit den Angehörigen. Es hat sich sogar ein Pärchen gefunden, das sich gegenseitig Nähe schenkt und zweimal am Tag miteinander spazieren geht.

Ina Brauns: Es haben sich kleinere Damen-Grüppchen gebildet, die sich gerne für Spielrunden wie Mensch-ärger-dich-nicht oder Rommey-Cup zusammenfinden. Es ist eher ein Gefühl, das sie verbindet und das für gegenseitige Zuneigung sorgt, als ein Wissen. Sie kennen und erkennen sich, ohne den Namen der anderen zu wissen oder in welchem Zimmer sie wohnen. Es geht mehr über das Gefühl „Die kenne ich ja“ oder „Neben der sitze ich immer“ sowohl gegenüber den Mitbewohner*innen als auch gegenüber unseren Pflegekräften.

Was sind die größten Herausforderungen eurer Arbeit?

Ina Brauns: Das ist zum einen der plötzliche Wechsel zwischen dementen und nicht-dementen Situationen mit einem Patienten. Soeben ist er fröhlich von einem Spaziergang zurückgekommen, im nächsten Moment beharrt er darauf, dass er noch nicht spazieren war und rausmöchte. Oder man räumt einen Frühstücksteller ab und die Patientin erklärt ganz sicher, dass sie noch kein Frühstück bekommen hat. Hier müssen unsere Kolleg*innen verstehen: das hat er oder sie jetzt wirklich vergessen. Statt daran zu verzweifeln, immer wieder das Gleiche zu erklären, versuchen sie, empathisch auf die Bewohner*innen einzugehen und sanft von ihrem Wunsch abzulenken. Gelingt das nicht, gibt es einfach ein zweites Frühstück oder einen weiteren Spaziergang.

Verena Schmid: Ruhig bleiben ist das oberste Gebot. Wir machen unseren Kolleg*innen immer wieder bewusst: Wenn ein*e Bewohner*in herausfordernd wird, richtet sich das nur gegen ein Gefühl, das er oder sie in diesem Moment empfindet und nicht gegen dich als Person. Wenn man eben noch miteinander gelacht hat und plötzlich kommt es zum Streit, liegt das daran, dass irgendetwas nicht passt und eine Emotion hochkommt. Das wissen und akzeptieren wir.

Wie seht ihr eure Aufgabe?

Ina Brauns: Wir können nicht gegen die Demenz steuern und möchten auch niemanden verändern. Wir wollen die Bewohner*innen genau dort abholen, wo sie gerade stehen und mit ihnen in ihre Welt abtauchen. Was wir tun können, ist „Momente schaffen“. Unsere Schützlinge im Hier und Jetzt glücklich machen.

Verena Schmid: Wir versuchen weniger bis gar keine Medikamente und Psychopharmaka einzusetzen. Stattdessen versuchen wir unsere Bewohner richtig zu lesen: Wann kippt die Stimmung? Kann ein sich anbahnender Konflikt vermieden werden? Kann durch das Lesen der Körpersprache ein Streit lenkbar gemacht werden? Denn es darf gestritten werden, man muss nur wissen, wie man damit umgeht und die Situation wieder befriedet.

Was findet ihr besonders schön an eurer Arbeit in der WG?

Ina Brauns: Ich mag die Echtheit, die Unverfälschtheit, die unsere Bewohner uns entgegenbringen. Menschen mit Demenz lügen nicht, denn sie können ihre Gefühle nicht mehr so gut kontrollieren. Alles ist ehrlich. Ob in fröhlichen, aufgebrachten oder unglücklichen Momenten. Das gefällt mir. Wir bekommen viel Gefühl zurückgeschenkt und fühlen uns auch durch die Angehörigen in der Zusammenarbeit sehr unterstützt und gewertschätzt.

Verena Schmid: Wenn wir es geschafft haben, auf jedes Gefühl individuell einzugehen, damit alle glücklich sind. Unsere Tage verlaufen nie gleich und man weiß morgens nie, was man im Tagesverlauf erleben wird. Wichtig ist, dass am Ende des Tages jeder glücklich durch den Tag gebracht wurde und viele schöne Momente erlebt hat. Das ist unsere schönste Auszeichnung.